Fremdheit und Nähe -
Ein parlando zu Marco Trochelmanns „Fujara“


Wir wissen nicht, was wir wirklich wissen, wir taumeln nur jenen Dingen hinterher, die wir zu kennen glauben und bleiben doch irgendwie unbefriedigt, wenn wir sie gefunden haben. Nur der Zufall kann gelegentlich ein Fenster aufreißen, wo gar keines vermutet wurde, und der Zufall hat einen Namen, manchmal heißt er Musik. Es war bei einem Konzert von Marco Trochelmann (zusammen mit dem Saxophonisten und Gitarristen Jörg Sieper), als er mir zuflüsterte, dass er auch die Fujara einsetzen würde. In der Annahme, dass dies auf das nächste Stück zuträfe, wollte ich, ohne das Instrument zu kennen, das Publikum in der Anmoderation neugierig machen, kündigte also unverfroren wortreich an, was ... nicht stattfand. Nun muss man wissen, dass Trochelmann ein äußerst vielseitiger und phantasievoller Musiker ist, der so ziemlich alles zum Instrument erklärt, was einen Ton von sich gibt. Doch so sehr ich mich auch bemühte, irgend ein mir fremdes Instrument auf der Bühne auszumachen - da war nichts, was ich nicht schon einmal gesehen hatte. Im Glauben, irgendetwas falsch verstanden zu haben, verwies ich bei der nächsten Anmoderation - nicht weniger wortreich, versteht sich - erneut auf die Fujara. Mit gleichem Erfolg. So wird unfreiwillig ein running gag geboren. Das Publikum amüsierte sich, die Musiker amüsierten sich, und beide trieben mich von Stück zu Stück mit einem Phantom im Wortschwall, running gag, bis zum letzten Stück - Ausgelassenheit, tosender Applaus, das war´s. Zugabe. Die einen nennen´s Zugabe, ich nenn es Glück: Marco Trochelmann entschloss sich, das Geheimnis zu lüften. Der erste heisere Ton springt von der Bühne, hüpft über die Köpfe der Zuhörer hinweg, die augenblicklich still werden, und der Ton läuft sich selbst hinterher, durch den Raum hindurch und kehrt zurück auf die Bühne, verschmilzt mit immer neuen Tönen zu samtig sanften Klangtrauben, um in einem peitschenden Rausch zu explodieren in vielstimmig tänzelnde Echokaskaden. Und das alles ist mir plötzlich merkwürdig vertraut, als träfen die Töne auf eine Saite in mir und brächten sie in unerwartete Schwingungen, um etwas anklingen zu lassen aus einer Zeit vor der Zeit. Und die Töne werden Farben und die Farben werden Bilder, Bilder von sanft abfallenden Hängen, von Räumen, die erfüllt sind von Echos längst verschütteter Weltwahrnehmung, das sind balladeske Klangminiaturen, die ein Sehen & Fühlen auslösen, grün, gelb, blau und ab und an ein Tupfer rot, magische Klänge, die über das weiße Rauschen der Gegenwart hinwegtragen hin zu der irritierenden Erkenntnis, dass die verborgene Vielfalt dieser Welt nur mit den Ohren zu erahnen ist. Ich sehe Marco Trochelmann und weiß: Fujara zu spielen heißt, ihr zu folgen, sich unterzuordnen einem Prinzip ursprünglicher Selbstverständlichkeit. Ein Hauch von melancholischem Einverständnis liegt über den Zuhörern, als Trochelmann sich im Applaus verbeugt. Die Ausgelassenheit ist verflogen, doch keiner will gehen. In kleinen Grüppchen sitzt man zusammen und erzählt sich Geschichten, ohne dass irgendwer sagen könnte, warum er gerade jetzt diese Geschichten erzählt - ein rhapsodischer Ausklang, ein langer Abend, länger als sonst. Und für einen langen Abend lang lag über allem so etwas wie der Atem der Welt.

Peter Grosz

(Peter Grosz ist Autor, Lektor, Lehrer und Workshopleiter)



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